Adrian Paci im Gespräch mit Kathrin Rhomberg

Kathrin Rhomberg: Eine zentrale Frage der Kunst wird im Zusammenhang mit der »zeitgenössischen Kunst« nur selten diskutiert, und es würde mich interessieren, ob sie für dich relevant ist: die Frage nach der Wahrheit und ob Kunst fähig ist, ein Medium der Wahrheit zu sein.

Adrian Paci: Natürlich sind mir Fragen nach der Wahrheit in der Kunst wichtig. Es geht mir allerdings weniger um den Begriff der »Wahrheit« als vielmehr um die Notwendigkeit, persönliches Erleben auszudrücken und in die Sprache zu übertragen. Ich vermute, dass die Beziehung zwischen der Ausdrucksform und der Erfahrung, zwischen Fiktion und Realität damit zu tun hat, was allgemein als »Suche nach der Wahrheit« bezeichnet wird. Ich sehe deshalb meine Arbeit auch als Ausdruck des Bedürfnisses, die reale Erfahrung in die Sprache der Kunst zu übersetzen. Dabei verzichte ich bewusst auf Ausschmückungen und versuche mich auf das Notwendigste zu beschränken. Wenn sich auf diese Weise verschiedene Zugänge und Interpretationen ergeben, dann aufgrund der Tiefe und Vielschichtigkeit der menschlichen Erfahrung. Denn nur in der Begegnung mit dem Leben trifft man auf Geschichten, Bilder, Gesten oder gar Fantasien.

An welche Werke denkst du, wenn du von der Notwendigkeit sprichst, persönliches Erleben künstlerisch produktiv zu machen?

Zunächst einmal an Albanian Stories (1997), meine erste Videoarbeit. Sie handelt von einem kleinen Mädchen, das eine traumatische Erfahrung durchlebt, aber mithilfe des Geschichtenerzählens und -erfindens damit umzugehen lernt. Sie verleiht der Erfahrung etwas Leichtes und Spielerisches, das ich für sehr wichtig halte.

Der Film handelt auf sehr eindrückliche und bewegende Weise von der Erfahrung der Migration, aber auch vom Leben in einem zerrütteten Land. Es sind Erfahrungen, die auch du als junger Künstler in Albanien gemacht hast. Wie hat dich das geprägt?

Das hat mich natürlich sehr geprägt. Die radikale Veränderung meines Lebens fiel mit meiner Suche nach neuen Ausdrucksformen in der zeitgenössischen Kunst zusammen. Während meines Studiums an der Akademie der Künste in Tirana waren wir alle sehr daran interessiert, möglichst viele Informationen darüber zu sammeln, was um uns herum vorging. Wir wollten überwinden, was wir von der Kunst der Vergangenheit gelernt hatten, und uns eigene, neue Bezugspunkte schaffen. Aber währenddessen wurde Albanien ein anderes Land, womit unsere Bezugspunkte ihre Bedeutung verloren. Doch auch meine Auswanderung nach Italien 1997 brachte eine enorme Veränderung mit sich.

In welcher Hinsicht?

Um mich herum veränderte sich alles. Gleich weiterzuleben und -zuarbeiten wie vorher war nicht möglich. Doch diese Herausforderung hatte auch etwas Positives, obwohl die Konfrontation mit der westlichen Kunstwelt zunächst nicht einfach war. Was mir da begegnete, war komplett anders als alles, was ich in Albanien gelernt und vom Kunstdiskurs erwartet hatte. In Albanien galt der moderne Diskurs als verboten. Und plötzlich war ich in Italien mit dem postmodernen Diskurs konfrontiert, der völlig neu für mich war. Inmitten dieser Verwirrung wurde meine persönliche Erfahrung der Zerbrechlichkeit des Lebens und seiner Veränderlichkeit sehr wichtig. Mir wurde klar, dass nichts stabil ist, zugleich aber die Realität sehr gegenwärtig ist und man nicht umhinkommt, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Ich glaube, das ist eine Erfahrung, die ich mit vielen albanischen Künstlerinnen und Künstlern meiner Generation teile.

Hat sich die Wahrheitssuche in postmodernen Zeiten für dich verändert?

Ich nehme unsere gegenwärtige Realität als verwirrend und zugleich sehr vielschichtig wahr. So gesehen gibt es viel mehr Bezugspunkte, mit denen man sich auseinanderzusetzen hat. Dennoch bleibt die persönliche Erfahrung besonders wichtig für mich. »Wahrheit« ist nichts Objektives, das ein für alle Mal gegeben wäre, sondern sie wird durch eine gewisse Intensität erfahrbar, und das bedeutet, dass man von ihr berührt werden muss. Ich glaube, dass die Kunst die Wahrheit durch eine gewisse Empfindung zugänglich macht, und deren Heftigkeit geht mit einem Gefühl von punctum einher, um einen Begriff von Roland Barthes zu verwenden. Dieser Augenblick muss persönlich sein, er kann nicht allgemein sein; aber durch die Intensität der Berührung geht etwas Persönliches über die rein autobiografische Beschreibung hinaus. Meine Videoarbeit The Column (2013) zum Beispiel handelt nicht nur von meinen eigenen Erlebnissen, sondern auch von einem Stück Marmor, das aus China stammt, nach Europa transportiert wird und während seiner Reise eine Transformation durchläuft. Das Video mag in vielerlei Hinsicht abstrakt sein, es basiert aber auf einer wahren Geschichte.

Wie kam es zu dieser Geschichte?

Die Geschichte begann mit einer Unterhaltung, die ich einmal mit einem befreundeten Restaurator führte. Er brauchte für eine Burg, die er gerade restaurierte, eine neue Marmorskulptur. Jemand hatte ihm erzählt, dass man so etwas in China machen lassen könne, weil es dort guten Marmor gebe, gute Handwerker, billige Arbeit, und dass sie schnell sein können, weil sie den Marmor während des Transports auf dem Schiff bearbeiten. Ich versuchte das nachzuprüfen, fand aber kein Unternehmen, das auf diese Weise verfährt. Doch meine Fantasie war angeregt worden und ich wollte unbedingt, dass das stattfindet. Die Vorstellung einer westlichen Skulptur, die unter den Händen einer Gruppe chinesischer Arbeiter mitten auf dem Ozean Gestalt annimmt, hatte mich einfach in ihren Bann geschlagen. Also machte ich mich auf nach China und organisierte die Reise – wodurch sich die Fiktionalität der ursprünglichen Erzählung mit der Realität des Arbeitsprozesses verknüpfte.

Hast du für den Film einen Set gebaut?

Nein, das habe ich nicht. Die Arbeiter bearbeiteten den Marmor auf dem Schiff und wir filmten sie. Trotzdem ist der Film keine dokumentarische Arbeit, denn irgendwie schuf ich durch die Art, wie ich filmte, und den anschließenden Schnitt eine Geschichte. Es war also nicht einfach nur die Beschreibung eines Vorgangs. Vielmehr war ich die ganze Zeit mit der ursprünglichen Fantasie beschäftigt, die die Erzählung meines Freundes in mir ausgelöst hatte: die Möglichkeit, mitten auf dem Ozean eine Skulptur zu schaffen. Und natürlich brachte die reale Umsetzung auf dem Schiff Schwierigkeiten mit sich, aber auch erstaunliche Überraschungen.

Die Marmorsäule scheint der Träger deiner Geschichte zu sein. Sie erhält eine besondere Rolle, nicht nur in Hinsicht auf die Legenden und Erzählungen, die sie verkörpert, sondern auch in der Weise, wie sie ihre Gestalt wandelt – von einem unbehauenen Stein zu einer antiken Säule. Die Herstellung der Marmorsäule scheint darüber hinaus mit unserer heutigen globalisierten Welt des Kapitalismus und ihrer Logik des Profits verwoben zu sein. So zeigt The Column eindrucksvoll, wie die Zeit der Herstellung mit der Zeit des Transports zusammenfällt. Doch es gibt noch eine weitere, implizite Zeitebene – durch die subtilen Bezüge auf die mythologischen Zeiten der Vergangenheit.

Das könnte etwas mit deiner Eingangsfrage über die Wahrheit zu tun haben. Die Vergangenheit nämlich unterrichtet uns darüber, was die Wahrheit war, was sie sein könnte und was von ihr bleibt. Zwei Aspekte meiner Arbeit erscheinen mir wichtig: Der erste hat mit dem Prozess kontinuierlicher Transformation zu tun, an dem wir alle teilhaben; der zweite mit der Frage, was von all den Transformationen übrig bleibt. Kunstwerke befinden sich oft in diesem Spannungsfeld: Sie bewahren etwas Vergangenes, das einen Prozess der Transformation durchlaufen hat, uns aber noch immer erlaubt, eine Zukunft zu imaginieren. Es geht also nie um eine Verherrlichung des Vergangenen, sondern um eine Reflexion über das, was bleibt und was für die Zukunft reaktiviert werden kann.

Das lässt mich an dein Video Interregnum (2017) denken, für das du found footage von öffentlichen Bestattungszeremonien kommunistischer Führer (wie Lenin, Stalin, Mao Zedong oder Enver Hoxha) verwendet hast. Arbeit und Titel verweisen auf den politischen Theoretiker Antonio Gramsci, der in seinen Gefängnisheften über den Ausnahmezustand geschrieben hat. Ist es das, was uns von der kommunistischen Vergangenheit bleibt?

In Interregnum geht es eigentlich um das Verhältnis zwischen Trauer und Fiktion, zwischen der Tatsache des Todes eines Menschen und dem »Theater der Trauer«, das angesichts seines Todes inszeniert wird. In diktatorischen Systemen erreichen solche Inszenierungen eine extreme Intensität. Das gesamte kommunistische Narrativ ist auf der Idee von Optimismus, Stärke und Glauben an eine erleuchtete Zukunft aufgebaut. Der Tod eines Diktators unterbricht dieses Narrativ und schafft Raum für eine Darstellung von Trauer und Leid, die (wie alles in diktatorischen Systemen) bis ins letzte Detail orchestriert und inszeniert ist. Aber auch wenn es sich um ein Theater des Schmerzes handelt, heißt das nicht, dass keine individuellen Gefühle vorhanden wären. Es heißt einfach nur, dass Fiktion und Realität – Wahrheit und Inszenierung – auf eine komplexe Weise miteinander verknüpft sind. Natürlich resultiert daraus eine total entfremdete Menschenmasse. Im Video sehen wir ja nie den toten Körper des Diktators, sondern nur den »politischen Körper« des Volkes der Diktatur.

Mit solchen Themen der Vergangenheit beschäftigst du dich auch in der Malerei. Du wurdest ja als Maler ausgebildet, und nach Ende deines Studiums an der Akademie der Künste in Tirana blieb die Malerei jahrelang dein wesentliches künstlerisches Ausdrucksmittel. Wie hängen Malerei und Video für dich zusammen?

Die Erfahrung mit Video veränderte mein Verständnis von Malerei grundlegend. Als junger Maler versuchte ich meinen eigenen Stil, meinen eigenen Gestus, meine eigene Note zu finden. Doch die Erfahrung mit meiner Videoarbeit von 1997 eröffnete mir eine andere Perspektive: Ich gestaltete das Werk nicht aus mir selbst heraus, sondern es entstand aus dem Prozess der Begegnung mit dem, was sich vor mir ereignete. Diese Erfahrung beeinflusste schließlich auch meine malerische Praxis. Statt »neue« Bilder zu gestalten, begann ich mich auf vorhandene Bilder zu beziehen. Seither steht meine Malerei stets im Dialog mit dem Einzelbild eines Videos oder eines Films. Dabei ist das Bild immer durch eine Art Flattern charakterisiert, eine innere Bewegung, die selbst dann präsent ist, wenn es sich um ein Standbild handelt. Mit diesem neuen Zugang wurde meine Malerei viel leichter. Er befreite die Malerei und die Gestaltung des Bildes von der Last der Verantwortung. In diesem Sinne könnte man sagen, dass es in meiner Malerei mehr um das Aktivieren eines Prozesses geht als um das Erschaffen eines Objekts. Es geht immer darum, was aus dem Dialog mit dem entsteht, was sich vor mir ereignet. In diesem Dialog suche ich nach einem Potenzial, das ich durch die Geste der Malerei zu aktivieren versuche.

Was deine erste Videoarbeit betrifft: Warum konntest du nicht auch mit der Malerei die dramatischen Ereignisse festhalten, die du und deine Familie durchlebt habt?

Es war die Potenzialität des Ereignisses, die Erzählung, die das Medium bestimmte. Das hätte ich mit der Malerei nicht umsetzen können.

Dasselbe gilt wahrscheinlich auch für andere Videoarbeiten. Wenn du in Turn On (2004) die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Realität der Arbeiter lenkst und damit gewissermaßen für ihr Recht eintrittst, angesichts ihrer miserablen ökonomischen Bedingungen wahrgenommen zu werden, oder wenn du in The Line (2007) eine Menschengruppe auf eine dieser mobilen Gangways zugehen lässt, die aber an kein Flugzeug angeschlossen ist, sodass die Menschen dort deplatziert sind – solche Momente können offensichtlich nur mit Video erfasst werden.

Ja, ich musste in einen viel unmittelbareren Dialog mit der Realität treten, und ich konnte das nur mit der Videokamera erreichen. Wie du weißt, wurde ich im Realismus ausgebildet. Deshalb war Kunst für mich immer das Resultat der Begegnung mit der Realität. Vielleicht ist jede Künstlerin und jeder Künstler mit der Frage konfrontiert, wie man wiedergeben kann, was man gesehen und erlebt hat. Wichtig scheint mir, dass man nicht bei einer reinen Beschreibung oder Information stehen bleibt. Für mich ging es auch darum, mich von der Malerei zu lösen und mit einem künstlerischen Medium zu arbeiten, das mir gänzlich fremd war. Zugute kam mir dabei die Frische des amateurhaften Zugangs, den ich ja in der Malerei längst nicht mehr hatte. Auf diese Weise verhalf mir die Arbeit mit Video dazu, mich nicht mehr so sehr mit der Frage des Mediums auseinandersetzen zu müssen und stattdessen eine direktere Verbindung zur Realität zu entwickeln.

Du sprichst von der Frische deines amateurhaften Zugangs zum Medium Video. Wie wichtig ist dabei die Form?

Die Form ist mir sehr wichtig, denn durch die Form manifestiert sich die Essenz der Dinge. Wir haben vorhin über die Frage nach der Wahrheit gesprochen: Wie nimmt die Wahrheit Form an, wie wird sie sichtbar? Das ist die große Frage. Wenn ich ein Kunstwerk schaffe, setze ich mich mit Form auseinander. Aber die Form hat keinen eigenständigen Wert. Vielmehr verhandelt Form jene Signale, die von etwas ausgehen, das Form annehmen möchte und in einer bestimmen Weise erscheint. So gesehen ist die Frage der Form sehr wichtig. Wahrheit kann nicht losgelöst von der Form gedacht werden, durch die sie sich offenbart. Letztlich geht es um das Was und das Wie – die beiden Aspekte sind miteinander verbunden. Das Was tritt auf bestimmte Weise in Erscheinung, somit liegt es an mir, mich mit dem Wie, also mit der Form, auseinanderzusetzen. Um auf deine Frage nach dem Amateurhaften zurückzukommen: Ich glaube, da geht es mehr um eine gewisse Unmittelbarkeit – das Fehlen von Filtern – als um irgendwelche stilistischen Entscheidungen.

Und wie du vorhin gesagt hast, hat es wahrscheinlich auch mit der Notwendigkeit zu tun, unsere Erfahrung mit einer Realität unmittelbar auszudrücken, die sich seit den 1990er-Jahren radikal verändert hat. Du gehörst ja der sogenannten Generation der 1990er-Jahre an, einer Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges, die politisch und künstlerisch von großen Versprechungen geprägt war. Zugleich aber markiert diese Zeit auch den Beginn einer neuen Periode, die wir heute als »zeitgenössische Kunst« bezeichnen. Es gibt einige Theoretikerinnen und Theoretiker, die meinen, dass Kunst in diesem neuen Kontext aufgehört hat zu bestehen. Wie siehst du das?

Es ist tatsächlich ein problematischer Kontext, in dem die Kunstwerke zirkulieren, gezeigt und rezipiert werden. Manchmal sind die Widersprüche, die sich zwischen der vordergründigen Rhetorik der Kunst und dem tatsächlichen Kontext der sogenannten Kunstwelt auftun, ziemlich offensichtlich. Man muss aufpassen, dass man nicht darin gefangen ist. Deswegen sprechen wir auch über Fragen, die über die Kunst hinausgehen. Wir rufen uns die Vergangenheit in Erinnerung – Menschen wie Velázquez, dem es als Hofmaler gelang, Werke zu schaffen, die weit über das Zelebrieren des Hofes hinausgingen. Oder Masaccio, einen religiösen Maler, dessen Werke viel mehr waren als religiöse Propaganda. Ich glaube an das Vermögen der Kunst, über die gegebene Situation und den Kontext hinauszugehen. Aber versteh mich nicht falsch – es geht nicht darum, sich auf eine »sichere Position« zurückzuziehen. Dieser außerhalb liegende Bereich ist kein sicheres Terrain. Man muss innerhalb der Widersprüche seiner Zeit versuchen, stets seine eigene Position infrage zu stellen.

Das ist eine ziemliche Herausforderung.

Ja, aber notwendig.

 

- Auszug aus dem Katalog

 

Foto: Jetmir Idrizi

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